„The North Wind“ – Band 1 von Alexandria Warwick
Ein Flüstern aus Schnee und Schuld

Es gibt Bücher, die dich nicht einladen, sondern dich entführen. The North Wind ist so eines – wie ein kalter Atemzug im Nacken, der nicht fragt, ob du bereit bist. Es nimmt dich mit – in eine Welt, die zersplittert ist wie gefrorenes Glas, scharfkantig und durchscheinend schön.
In dieser Geschichte trifft Beauty and the Beast auf die Edda, doch mit einer Heldin, die keinen Platz mehr für Märchen hat. Wren lebt in einem verfallenen Reich, das von endlosem Winter verschlungen wird – ein Fluch, so alt, dass kaum noch jemand an sein Ende glaubt. Doch sie glaubt an die Wärme unter ihrer Haut. An ihre Schwester, an ihr Volk, an das Recht, zu kämpfen – selbst wenn niemand mehr kämpft. Als der Nordwind kommt, um einen Tribut zu fordern, gibt sie sich ihm hin. Nicht aus Demut, sondern aus Trotz. Aus Liebe. Aus Zorn.
Und dann beginnt das wirkliche Märchen. Aber es ist keines aus Seide, sondern aus Reif und rostigem Eisen.
Der North Wind selbst – Halbgott, Ungeheuer, Wächter der Stürme – ist keine klassische „Love Interest“-Figur. Er ist ein Sturm in Menschengestalt. Und seine Kälte ist mehr als ein Fluch: Sie ist Trauma, Schuld, Einsamkeit, ein Jahrtausende altes Schweigen. Wren prallt auf ihn wie ein flammender Pfeil. Sie will Antworten. Und ein Ende, das sie selbst schreibt.
Warwicks Sprache ist mal frostig klar, mal flirrend poetisch, fast wie ein Märchen aus Anima – hättest du je Ophelia auf ein Frostreich losgelassen, sie hätte wohl ähnlich beobachtet, gezögert, gekämpft. Man spürt in jeder Szene die Kälte auf der Haut, die Einsamkeit in den großen Hallen und das pochende Herz unter den Schneeschichten. Es ist keine klassische Romantasy – es ist eine Geschichte über Vertrauen, das wachsen muss wie ein zarter Trieb im Schnee.
Und doch: The North Wind hat auch Klischees. Tropes, die man kennt – das Biest mit den goldenen Augen, die Hitze in der Kälte, das langsame Annähern zweier beschädigter Seelen. Aber hier wirken sie nicht billig, sondern vertraut. Wie uralte Märchen, die jemand mit blutigen Fingern neu geflochten hat.
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