Juniper and Thorn

„Juniper & Thorn“ von Ava Reid – eine düstere, dornige Mär von Sehnsucht, Haut und Hunger

Wenn Häuser atmen und Väter flüstern, was besser verschwiegen bliebe, dann befinden wir uns in der Welt von Juniper & Thorn – einem düsteren Märchen, das nicht in einer fernen Zeit spielt, sondern in einem vergessenen Zwischenraum: alt und neu, grausam und betörend zugleich.

Marlinchen, die jüngste Tochter eines gefürchteten Zauberers, lebt eingeschlossen in einem verfallenden Haus, das mehr Grab als Heim ist. Ihre Schwestern glänzen – sie jedoch ist die Unscheinbare, das brave, bleiche Schattenkind, das die Wünsche anderer leise erfüllt. Doch tief unter ihrer Haut brodelt ein Durst – nach Freiheit, Berührung, nach dem eigenen Atem ohne Aufsicht.

Ava Reid spinnt ihre Geschichte wie ein altes slawisches Märchen, das man nachts heimlich unter der Bettdecke liest – nicht aus Angst, sondern weil es etwas Verbotenes in sich trägt. Die Welt ist gespickt mit rohem Fleisch, alten Göttern, und der Art von Magie, die in Wunden lebt, nicht in Wundern. Marlinchens Vater ist kein einfacher Tyrann – er ist eine Chimäre aus Trauer, Kontrolle und der verdorbenen Hoffnung, ewig zu bestehen. Die Schwestern tanzen auf einem Drahtseil aus Rivalität und Zusammenhalt, und Marlinchen selbst… sie beginnt zu atmen. Zögernd. Dann mit aller Gewalt.

Die Sprache ist ein Rausch. Jeder Satz blutet, schillert, schreit nach Befreiung. Ich habe mich beim Lesen gefühlt, als würde ich in einem düsteren Puppenhaus leben – und plötzlich flammen hinter der Tapete Stimmen auf, die ich längst vergessen glaubte. Wie bei Christelle Dabos, dieser Meisterin des unsichtbaren Fadens zwischen Welten, bleibt auch hier vieles unausgesprochen und trotzdem spürbar. Die Körper reden, wenn die Zungen schweigen. Und nichts ist einfach nur das, was es zu sein scheint.

Doch sei gewarnt: Juniper & Thorn ist kein zartes Märchen. Es ist ein Fiebertraum voller Missbrauch, Kontrolle, Essstörung, Selbstaufgabe – und einem unnachgiebigen Überlebenswillen. Marlinchens Reise ist kein Heldinnenepos. Sie ist ein stilles, schmutziges Sich-Herauswinden aus einem Kokon aus Gehorsam. Und das macht sie nur umso eindringlicher.


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